Erkunde, was wir derzeit über Zwänge und das Gehirn wissen
Einleitung
Die Zwangsstörung (Englisch: Obsessive Compulsive Disorder, OCD) ist eine psychische Störung, die rund 1–3 % der Bevölkerung betrifft. Das mag nicht nach viel klingen – bedeutet aber, dass weltweit viele Millionen Menschen mit einer Zwangsstörung leben. Menschen mit Zwängen erleben Zwangsgedanken, das sind unerwünschte, aufdringliche Gedanken, Zweifel, oder quälende Vorstellungen – und Zwangshandlungen, also wiederholte Verhaltensweisen oder gedankliche Rituale. Oft haben diese den Zweck, die durch Zwangsgedanken ausgelösten Ängste und anderen Gefühle zu verringern oder zu vermeiden.

Ursache ist eine Störung des Gehirns, d. h. diese Zwangssymptomatik wird durch die Art und Weise, wie das Gehirn funktioniert, verursacht. Ein besseres Verständnis der Beziehung zwischen Zwängen und dem Gehirn kann den Betroffenen und anderen helfen, diese Erkrankung besser zu verstehen.
“Knowing the science behind my OCD and its treatment, i.e., how they work in the brain, has been a big motivator in my recovery. It has demonstrated to me that what I’m dealing with is real and that the treatment addresses the neurobiological issue at hand. Knowing how OCD and its treatments work in the brain has also helped me educate my support system on OCD, as it’s a highly misunderstood disorder."
„Den wissenschaftlichen Hintergrund meiner Zwangsstörung und ihrer Behandlung zu verstehen, d. h. zu wissen, wie sie im Gehirn agieren, war eine wichtige Motivation für mich. Dies hat mir gezeigt, dass das, was mit mir passiert, real ist und, dass die Behandlung die neurobiologische Störung verändert. Dieses Wissen hat mir außerdem geholfen, mein Umfeld über die Zwangsstörung aufzuklären, denn es gibt enorm viele Missverständnisse.“
Maya Tadross, Community Gatekeeper
"OCD ist eine Erkrankung, die noch viel zu unbekannt ist, wodurch Betroffene häufig erst sehr spät die richtige Hilfe bekommen. Deshalb ist es mir unglaublich wichtig, offen über meine Diagnose zu sprechen und anderen Betroffenen Mut zu machen."
Anja Schlosser, Community Gatekeeper
“Knowing more about OCD and the brain matters to me because it helps arm me with information to help combat the stigma associated with this mental illness. Finding out more gives me hope as it relates to improved treatments for OCD, and understanding more helps me to learn the connections between brain chemistry and the neurological effects on the body.”
"Es ist mir wichtig, mehr über Zwangsstörungen und das Gehirn zu wissen. Fakten helfen mir, die Stigmatisierung dieser psychischen Erkrankung zu bekämpfen. Mehr über die Zwangsstörung zu erfahren, gibt mir Hoffnung auf verbesserte Behandlungsmöglichkeiten. Ein tieferes Verständnis hilft mir außerdem, die Zusammenhänge zwischen der Chemie des Gehirns und den neurologischen Auswirkungen auf den Körper zu erkennen.“
Kathy Stocking, Community Gatekeeper
Diese Webseite wurde von WissenschaftlerInnen, Wohltätigkeitsorganisationen und Betroffenen erstellt, um die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung zum Thema Zwangsstörung zu sammeln und leichter zugänglich zu machen. Erfahre im Folgenden, was wir derzeit über Zwänge und das Gehirn wissen.
Diese Webseite befasst sich mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu der Zwangsstörung und dem Gehirn. Wenn du mehr über die Zwangsstörung im Allgemeinen oder über Behandlung und Unterstützung erfahren möchtest, besuche bitte den Bereich "OCD Ressourcen".
Das Gehirn
Um die Zwangsstörung und das Gehirn besser zu verstehen, brauchen wir zuerst ein paar grundsätzliche Informationen darüber, wie das Gehirn funktioniert.
Das Gehirn verarbeitet Informationen und steuert Verhalten
Unser Gehirn ermöglicht es uns, die Welt zu begreifen und uns in ihr zu bewegen. Eine seiner Hauptaufgaben ist die Informationsverarbeitung (ein bisschen wie ein Computer). Mit unseren Sinnen (Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken) nehmen wir Informationen aus der Welt um uns herum auf. Das Gehirn verarbeitet diese Informationen und steuert unser Verhalten.

Was passiert zum Beispiel, wenn man eine Spinne sieht? Die visuellen Informationen (das Bild einer Spinne) gelangen von den Augen zu der dafür verantwortlichen Region des Gehirns – der Sehrinde, die auch visueller Cortex genannt wird. Daraufhin sendet das Gehirn Signale an andere Regionen, die diese Informationen auswerten und erkennen, dass es sich um ein Tier und spezifisch um eine Spinne handelt. Jetzt hast du also die Informationen – und musst dich entscheiden, was du tust. Läufst du weg? Oder siehst du dir die Spinne genauer an? Vielleicht hast du Angst vor Spinnen und entscheidest dich, wegzulaufen. Genau das ist im Grunde die Funktion des Gehirns: Es nimmt Informationen auf und wertet sie aus, so dass wir darauf reagieren können.
Das Gehirn ist das komplexeste Organ im menschlichen Körper. Es besteht aus Milliarden von Gehirnzellen, die sich zu verschiedenen Arealen zusammenschließen. Diese Areale tauschen Informationen miteinander aus und bilden so Netzwerke innerhalb des Gehirns.

Laut aktuellen Erkenntnissen spielen sogenannte fronto-striatale Netzwerke bei Zwängen eine besonders wichtige Rolle. Jeder Mensch verfügt über mehrere fronto-striatale Bahnen. Sie verbinden Hirnregionen im sogenannten präfrontalen Cortex mit tieferen Regionen (wie dem Striatum), damit Informationen hin- und hergeschickt werden können – daher also ein „Netzwerk“. Die fronto-striatalen Netzwerke tragen maßgeblich zur Gewichtung von Informationen und der Auswahl zwischen konkurrierenden Informationen bei – kurz, sie entscheiden, was wichtig ist und was nicht.

Man kann sich die fronto-striatalen Netzwerke wie Straßenkreuzungen vorstellen, die dabei helfen, den Fluss zwischen Autos, Fahrrädern und Fußgängern zu regeln. Ampeln helfen auch dabei, den Verkehrsfluss zu regeln. Im Gehirn steuern die fronto-striatalen Netzwerke den Informationsfluss – gewisse Informationen werden durchgelassen, andere aufgehalten. Sie können sogar bestimmen, welche Arten von Informationen wichtiger sind und deshalb schneller ihr Ziel erreichen sollten.

Die fronto-striatalen Netzwerke steuern den Informationsfluss und dadurch unsere Reaktionen auf bestimmte Situationen: ob wir etwas vermeiden oder genauer ansehen, auf welche Informationen wir uns konzentrieren oder ob wir über Dinge weiter nachdenken oder uns neuen Dingen zuwenden. Diese Netzwerke haben großen Einfluss auf unser Verhalten. Wenn wir also eine Spinne sehen, helfen uns die fronto-striatalen Netzwerke zu entscheiden, ob wir näher hinsehen oder weglaufen.
Biochemische Stoffe namens Neurotransmitter beeinflussen maßgeblich, wie die fronto-striatalen Netzwerke funktionieren. Neurotransmitter sind Botenstoffe, welche es Gehirnzellen erlauben, miteinander zu kommunizieren. Unterschiedliche Mengen von Neurotransmittern wie Dopamin oder Serotonin können sich darauf auswirken, wie wir Entscheidungen treffen.
Die fronto-striatalen Netzwerke spielen auch eine wichtige Rolle bei Zwängen. Wir werden später noch genauer auf diese Netzwerke und Zwänge eingehen.
Unterschiedliche Einflüsse machen jedes Gehirn einzigartig
Alle Gehirne funktionieren nach diesen allgemeinen Grundsätzen der Informationsverarbeitung. Trotzdem ist das Gehirn jedes Menschen einzigartig und verarbeitet Dinge auf individuelle Weise.
Kein Gehirn ist genau wie das andere, und jedes Gehirn verändert sich im Laufe des Lebens. Bei unserer Geburt hat das Gehirn nur einen Bruchteil seiner vollen Größe. Während der Kindheit, und Jugend, bis ins Erwachsenenalter wird es immer größer und komplexer. Die Hirnregionen, die zu den fronto-striatalen Netzwerken gehören, bilden sich mit als letzte voll aus, meistens erst im späteren Jugendalter. Dies könnte wesentlich zur Entstehung von Störungen wie der Zwangsstörung beitragen. Mehr zu diesem Thema erfährst du im nächsten Abschnitt.

Diverse Faktoren beeinflussen, wie sich unser Gehirn entwickelt und verändert. Ein solcher Faktor sind unsere Gene – die biologischen Bausteine, die wir von unseren Eltern erben. Gene bestimmen zum Teil, wie unser Gehirn aufgebaut ist. Sie sind aber nicht der einzige Faktor. Wir wissen, dass die Umwelt ebenfalls einen großen Einfluss hat – alles, was wir im Laufe unseres Lebens sehen, erleben und tun, wirkt sich auf unser Gehirn aus. Wenn wir z. B. Klavierspielen lernen, verändern sich Struktur und Funktion des Gehirns, um die Koordination der komplexen Fingerbewegungen zu unterstützen. Das Gehirn ist also kein statisches Organ, sondern ein ausgesprochen dynamisches. Es passt sich den Anforderungen und den Umständen an. Diese Eigenschaft nennt man Plastizität oder Formbarkeit – die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern. Alle Einflüsse, sowohl intern (wie unsere Gene oder Veränderungen bei Hormonen und Neurotransmittern) als auch extern (wie das Erlernen neuer Fähigkeiten), wirken sich wesentlich auf das Gehirn und seine Funktion aus.
All dies bedeutet, dass jedes Gehirn einzigartig ist. WissenschaftlerInnen untersuchen gegenwärtig, wie Unterschiede in der Art und Weise, wie das Gehirn funktioniert, zu Zwangsstörungen führen können. Genauso, wie alle Gehirne unterschiedlich sind, können sich auch die Ursachen von Zwängen von Person zu Person unterscheiden. Darauf gehen wir im nächsten Abschnitt ein.
Welche Rolle spielt das Gehirn bei der Zwangsstörung?
Die Wissenschaft versucht noch zu entschlüsseln, welche Mechanismen im Gehirn mit der Zwangssymptomatik einhergehen. Wahrscheinlich ist, dass Zwänge nicht durch einen einzigen veränderten Prozess im Gehirn verursacht werden, sondern durch Veränderungen von mehreren verschiedenen Gehirnprozessen.
Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, wird die Entwicklung des Gehirns von diversen Faktoren beeinflusst, darunter Gene, Umwelt, Erfahrungen und Verhalten. All diese Faktoren tragen zu der einzigartigen Struktur und Funktionsweise des individuellen Gehirns bei.
Zwänge entstehen vermutlich, wenn sich mehrere Prozesse im Gehirn auf bestimmte Weise entwickeln. Obwohl die Ursachen je nach Person unterschiedlich sein können, können sehr ähnliche Symptome (d.h. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen) entstehen. Das lässt sich z. B. mit Kopfschmerzen vergleichen. Kopfschmerzen sind ein Symptom (dein Kopf tut weh), können aber von verschiedensten Dingen verursacht werden: einer Migräne, zu viel Sonne oder dem Konsum schädlicher Substanzen. Genauso gibt es vermutlich unterschiedliche Gründe, warum Menschen Zwangssymptome erleben. In diesem Abschnitt betrachten wir die Rolle der fronto-striatalen Netzwerke, denn sie stehen im Mittelpunkt einer der etabliertesten wissenschaftlichen Theorien zu den Ursachen von Zwangsstörungen.

WissenschaftlerInnen sind im Laufe der letzten Jahrzehnte zu dem Schluss gekommen, dass Veränderungen der fronto-striatalen Netzwerke maßgeblich für Zwänge verantwortlich sind. Diese Netzwerke spielen eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung und Gewichtung von Informationen.
Wenn die Steuerung dieses Informationsflusses gestört ist, beispielsweise durch Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Netzwerken, können – laut WissenschaftlerInnen – die Symptome von Zwangsstörungen erscheinen, wie beispielsweise zwanghafte Gedanken und Handlungen.
Ist z. B. die Kontrolle eines Signals für eine Bewegung gestört, kann dies dazu führen, dass die Person in Reaktion auf einen „Trigger“ oder Auslöser (Messer, Herd, Lichtschalter usw.) ein starkes Bedürfnis empfindet, bestimmte Verhaltensweisen auszuführen. Dies führt zu Zwangshandlungen (indem man z. B. scharfe Gegenstände meidet, wiederholt kontrolliert, dass der Herd abgeschaltet ist, oder einen Lichtschalter ein- und ausschaltet).
Ähnlich könnte ein Ungleichgewicht in den fronto-striatalen Netzwerken dazu führen, dass gewöhnliche aufdringliche Gedanken zu Zwangsgedanken werden. Viele Menschen, mit oder ohne Zwängen, erleben aufdringliche oder beunruhigende Gedanken. Bei einer Zwangsstörung bleiben diese aufdringlichen Gedanken jedoch oft im Kopf haften und lassen sich nur schwer unterdrücken. Hier dürften die fronto-striatalen Netzwerke eine Rolle spielen. Wenn ein Ungleichgewicht vorliegt, ist das Gehirn möglicherweise nicht in der Lage, solche Gedanken als irrelevant einzustufen und zu unterdrücken. Dadurch bleiben sie bestehen und werden zu Zwangsgedanken. Oft führt dies zu einem erhöhten Maß an Leidensdruck und setzt den Kreislauf der Ausführung von Zwangshandlungen fort, um die Gedanken und das Leid, die überwältigend geworden sind, zu reduzieren.

Kurz zusammengefasst: WissenschaftlerInnen gehen davon aus, dass Probleme bei der Verarbeitung unterschiedlicher Arten von Informationen oder bei der Steuerung des Informationsflusses im Gehirn zu zwanghaften Gedanken und Handlungen führen können.
Zurück zu unserem Beispiel einer Verkehrskreuzung: Wenn die Ampelschaltung nicht stimmt, wird der Verkehr nicht mehr optimal geregelt. Schaltet eine bestimmte Ampel beispielsweise nur selten auf Rot, erhält der Verkehr auf dieser Straße Vorrang, während anderswo Staus entstehen. Selbst kleinere Ungleichgewichte in einem so komplexen, dynamischen System können im weiteren Verlauf schwerwiegende Folgen haben.

Trotz großer Fortschritte in diesem Bereich der Forschung wird noch aktiv untersucht, wie genau die fronto-striatalen Netzwerke ins Ungleichgewicht geraten. Ähnlich wie eine komplexe Verkehrskreuzung in der Großstadt kann sich das Gleichgewicht im Gehirn auf verschiedenste Weisen verändern:
Ein Ungleichgewicht biochemischer Botenstoffe (sogenannte Neurotransmitter), die diese Netzwerke steuern, könnte eine Rolle spielen.
Die Stärke der Verbindung zwischen Hirnregionen könnte sich ebenfalls auf den Informationsfluss auswirken.
Oder vielleicht ergeben sich Veränderungen, wenn das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Netzwerken gestört ist.

Weil es derart unterschiedliche Ursachen für Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Netzwerken gibt, kann es sein, dass je nach Person auch unterschiedliche Behandlungsansätze erforderlich sind. Dieses Thema wird derzeit aktiv erforscht – mehr erfährst du im nächsten Abschnitt.
Das Auftreten der Symptome
Die Symptome einer Zwangsstörung machen sich oft im späten Kindheitsalter, in der Jugend oder in den frühen Zwanzigern erstmals bemerkbar. Weil das Gehirn in dieser Zeit eine erhebliche Entwicklung durchläuft, gehen ForscherInnen davon aus, dass sich viele Gehirnsysteme noch stark verändern können. Sowohl Neurotransmitter als auch Hirnregionen, die mit den fronto-striatalen Netzwerken verbunden sind, reifen noch bis weit in das Jugend- und frühe Erwachsenenalter. Wenn also die Entwicklung dieser Gehirnsysteme nicht rundläuft, dürfte dies erheblich zur Auslösung der Zwangsstörung beitragen. Somit kann die individuelle Entwicklung des Gehirns zur Entstehung einer Zwangsstörung führen. Dennoch kann die Zwangsstörung in jeder Lebensphase auftreten, beispielsweise in einer besonders belastenden.
ForscherInnen wissen noch nicht genau, warum zwanghafte Gedanken und auch Handlungen so viele verschiedene Themen umfassen. Diese reichen beispielsweise von Waschzwängen aufgrund gesundheitlicher Ängste, über Kontrollzwänge zur Bewältigung von Unsicherheit, bis hin zu Zwangsritualen, um Unheil abzuwenden. Es ist möglich, dass sich Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Bahnen insbesondere auf die Dinge beziehen, die für die jeweilige Person besonders viel Stress oder Angst verursachen oder die ihr besonders wichtig sind. Mit anderen Worten: Der Inhalt zwanghafter Gedanken und Handlungen ist oft individuell und abhängig von den Prioritäten und Sorgen der jeweiligen Person. Dies würde bedeuten, dass sich die Zwangsstörung zwar anders äußert, aber ähnliche biologische Ursachen haben könnte.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Zwangsstörung vermutlich durch Veränderungen in fronto-striatalen Netzwerken verursacht wird, welche Informationen im Gehirn unterdrücken und Vorrang geben. Ungleichgewichte bei der Steuerung dieser Informationen können zur Entstehung von Zwangsgedanken und -handlungen beitragen. WissenschaftlerInnen untersuchen zurzeit, wie man diese Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Netzwerken ändern kann und welche Behandlungsmethoden das Gleichgewicht wiederherstellen können.

Im nächsten Abschnitt befassen wir uns damit, wie die Wissenschaft diesen Fragen nachgeht und welche anderen vielversprechenden Forschungsansätze es gibt.
Forschung zu Gehirn und Zwangsstörungen
HirnforscherInnen (oder NeurowissenschaftlerInnen) wenden bei ihrer Erforschung des Gehirns unterschiedliche Methoden und Mittel an. Manche untersuchen einzelne Gene oder Gehirnzellen im Labor. Andere studieren das gesamte, lebende, menschliche Gehirn mithilfe großer Maschinen wie MRT-Scanner, die Bilder des Gehirns erzeugen.
Jede dieser Methoden hat ihre Vor- und Nachteile. Anhand von Tierversuchen konnten WissenschaftlerInnen beispielsweise untersuchen, wie Veränderungen spezifischer Gene das Verhalten beeinflussen. Die Forschung am Menschen, die sich mit Verhalten und der Funktionsweise des Gehirns befasst, hat es WissenschaftlerInnen ermöglicht, zu untersuchen, wie verschiedene Bereiche des menschlichen Gehirns kommunizieren und zusammenarbeiten, um unterschiedliche bestimmte Verhaltensweisen und Erkenntnisse zu erzeugen. Die Zusammenführung von Methoden und Erkenntnissen aus all diesen Forschungsgebieten hilft uns, besser zu verstehen, was im Gehirn passiert, besonders bei Personen mit Zwangsstörungen. Wir gehen hier vor allem auf die Forschung am Menschen ein – dies ist das Fachgebiet des Forschungsteams, das diese Webseite mitgestaltet hat. Zudem sind es Verfahren, denen Betroffene mit Zwangsstörungen am wahrscheinlichsten begegnen werden, falls sie sich entschließen, an wissenschaftlichen Studien teilzunehmen.
Erforschung des Verhaltens
WissenschaftlerInnen, die sich damit befassen, wie Menschen denken und handeln, betrachten die Hirnfunktion oft anhand von Aufgaben oder Spielen. Ein Beispiel ist die Brain Explorer App. Diese Aufgaben bieten Einblicke in die Abläufe des Gehirns, und WissenschaftlerInnen können dadurch besser verstehen, wie Menschen in unterschiedlichen Situationen Entscheidungen treffen. Fragebögen oder Interviews helfen ebenfalls, Informationen über das Denken und Verhalten zu sammeln. So entsteht ein klareres Gesamtbild von den diversen Faktoren, die möglicherweise mit individuellen Schwierigkeiten, Veränderungen der psychischen Gesundheit oder sogar dem Erfolg bestimmter Behandlungsansätze verbunden sind. WissenschaftlerInnen haben z. B. anhand von Spielen und Aufgaben herausgefunden, dass Menschen mit Zwängen oft starke Unsicherheit und mangelndes Vertrauen in Bezug auf ihr Denken und Handeln verspüren. Diese Erkenntnisse decken sich mit typischen Zwangssymptomen, wie Unentschlossenheit und stetig wiederholtes Überprüfen.
Wenn du Interesse hast, zur Forschung beizutragen, ein Spiel zu spielen oder einen Fragebogen auszufüllen, lade einfach die App unseres Labors, Brain Explorer, herunter. Jeder kann mitmachen.
Die Erforschung des Gehirns
Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben NeurowissenschaftlerInnen unterschiedliche Methoden entwickelt, um Einblick in die Funktionsweise des Gehirns zu gewinnen. Meistens werden dazu große Hirnscanner eingesetzt, wie bei der Magnetresonanztomographie (MRT, auch Kernspintomographie genannt), Magnetoenzephalographie (MEG) oder Elektroenzephalographie (EEG). All diese Maschinen arbeiten ohne Strahlung, werden routinemäßig in Krankenhäusern verwendet und sind sehr sicher.

Mithilfe all dieser Methoden können wir nachvollziehen, wann das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet, was es verarbeitet und wie es das tut. Um zu verstehen, wie Informationen im Gehirn verarbeitet werden, bitten WissenschaftlerInnen oft freiwillige Studienteilnehmende, bestimmte Aufgaben auszuführen (wie oben schon erwähnt), während sie sich in einem Scanner befinden. Wir ForscherInnen beobachten, wie Menschen diese Spiele angehen oder auf bestimmte Bilder oder Töne reagieren, und erkennen dadurch, welche Hirnregionen bei Menschen mit der ohne Zwängen auf unterschiedliche Weise aktiviert werden. Dies ermöglicht es uns, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, wann Informationen unterschiedlich verarbeitet werden und wie dies zu abweichenden Wahrnehmungen und Handlungen führen kann. So können wir beispielsweise Netzwerke im Gehirn betrachten, die an der Verarbeitung von Unsicherheit beteiligt sind, und testen, ob diese Netzwerke bei Menschen mit und ohne Zwangsstörungen unterschiedlich aktiv sind. Hierbei ergeben sich auch potenzielle Ansatzpunkte für neue Behandlungsmethoden.
Kurz zusammengefasst: Mithilfe diverser Methoden untersuchen WissenschaftlerInnen, was im Gehirn von Menschen mit Zwangsstörungen anders ist und wie Behandlungen und Therapien dies beeinflussen könnten. Das wird in Zukunft hoffentlich zu besseren Behandlungsmöglichkeiten führen. Mehr zu verschiedenen Behandlungsansätzen und ihrer Wirkungsweise im Gehirn erfährst du im nächsten Abschnitt.
Möglichkeiten der Behandlung
In den vorhergehenden Abschnitten haben wir erklärt, wie die Zwangsstörung mit Gehirnfunktionen zusammenhängt, vor allem mit Ungleichgewichten in fronto-striatalen Netzwerken. Aber wie gehen die existierenden Behandlungsansätze bei Zwangsstörungen diese Ungleichgewichte an?
Verschiedene Prozesse im Gehirn können bei Menschen mit einer Zwangsstörung im Ungleichgewicht sein. So können verschiedene Behandlungsmethoden in unterschiedlicher Weise auf die fronto-striatalen Netzwerke einwirken. Dies könnte erklären, warum bestimmte Methoden bei manchen Menschen gut funktionieren und bei anderen weniger. In diesem Abschnitt beschreiben wir, was die gängigsten Behandlungen von Zwangsstörungen sind und was wir über ihre Wirkungsweise wissen. Es gibt auch andere Behandlungen, die das Gehirn beeinflussen. Allerdings sind viele noch nicht so etabliert bzw. werden momentan noch wissenschaftlich überprüft. Wir werden deshalb auf diese Behandlungen nicht eingehen, aber hier kannst du mehr darüber erfahren. Bitte beachte, dass die Verfügbarkeit und Zulassung solcher Behandlungen je nach Land unterschiedlich ist und sich ändern kann.
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Expositions- und Reaktionsmanagement (ERM)
Zwangsstörungen, vor allem bei jungen Menschen, werden am häufigsten mit evidenzbasierten Therapien behandelt, darunter kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Expositions- und Reaktionsmanagement (ERM). KVT ist eine spezifische Form von Psychotherapie, bei der Menschen unter der Anleitung qualifizierter PsychotherapeutInnen lernen, ihre Denkmuster und ihr Verhalten zu ändern. ERM ist die wichtigste Art von KVT bei Zwangsstörungen, da sie darauf abzielt, den Kreislauf der Zwangsgedanken und -handlungen zu durchbrechen.
Die betroffene Person konfrontiert sich dabei mit zwangsauslösenden Situationen, versucht aber, diese Handlungen nicht auszuführen. Wenn der Zwang sich beispielsweise um die Angst vor schlimmen Ereignissen dreht, dann könnte sich die Person ihren Triggern aussetzen, indem sie scharfe Gegenstände anfasst oder Bilder von einem Unfall ansieht. Unter der Anleitung eines/r Therapeutin stellt sie sich der Situation, akzeptiert das Gefühl von Unbehagen oder Angst, das dabei entsteht, und widersetzt sich dem starken Bedürfnis, die Zwangshandlungen auszuführen. Auf diese Weise macht ihr Gehirn wiederholt die Erfahrung, dass es angstauslösende Situationen aushalten kann, ohne darauf mit Zwangshandlungen reagieren zu müssen. KVT mit ERM verändert also die Funktionsweise des Gehirns durch das Besprechen, Lernen und Üben alternativer Verhaltensmuster. Eine solche Therapie ist oft herausfordernd, aber sehr wirkungsvoll. Weitere Informationen findest du in unserem Abschnitt OCD Ressourcen.

Wie funktioniert das?
Mit dem Expositions- und Reaktionsmanagement nutzen wir die Plastizität des Gehirns, d. h. seine Fähigkeit, sich anzupassen und zu verändern, um indirekt die Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Netzwerken zu verändern. Indem wir üben, anders auf zwanghafte Gedanken zu reagieren, beginnen wir, die zwangsauslösenden Situationen zu bewältigen. Bildgebende Verfahren des Gehirns deuten tatsächlich darauf hin, dass ERM die Funktionsweise der fronto-striatalen Netzwerke verändert (wissenschaftliche Artikel zu dem Thema findest du hier und hier).
Veränderung der Hirnchemie
Ein zweiter Ansatz zur Korrektur dieses Ungleichgewichts besteht darin, den Spiegel sogenannter Neurotransmitter im Gehirn zu ändern, die das Gleichgewicht der fronto-striatalen Netzwerke beeinflussen. Es gibt verschiedene Medikamente, die auf verschiedene Neurotransmitter einwirken. Die am häufigsten zugelassenen und verschriebenen Medikamente (sogenannte SSRI oder SRI) beeinflussen den Neurotransmitter Serotonin. Manchmal werden auch weitere Medikamente eingesetzt, die den Neurotransmitter Dopamin regeln.

Wie funktioniert das?
Wir wissen, dass diese Medikamente sicher sind und bei Zwangsstörungen helfen, aber wie sie die fronto-striatalen Netzwerke wieder ins Gleichgewicht bringen, ist nicht vollständig klar. Neurotransmitter haben viele Aufgaben im Gehirn, weshalb sich schwer feststellen lässt, was genau Medikamente verändern. Fest steht, dass sie direkt auf die Informationsverarbeitung in den Hirnregionen einwirken, die zu den fronto-striatalen Netzwerken gehören. Nehmen wir wieder unser Beispiel von der Straßenkreuzung: Der veränderte Spiegel eines Neurotransmitters wie Serotonin kann das gesamte System beeinflussen, genau wie die veränderte Dauer des grünen Lichts einer Ampel den Verkehrsfluss verändern kann.
Veränderung der Hirnaktivität
Es gibt andere, experimentelle Ansätze, um die Ungleichgewichte der fronto-striatalen Netzwerke zu verändern. Sie sind allerdings noch nicht umfassend untersucht bzw. sind nur für Betroffene zugelassen, die nicht auf die gängigen Behandlungen ansprechen. Diese Methoden ändern die Hirnaktivität direkt, z. B. durch Tiefe Hirnstimulation (THS), bei der ein elektrischer Impulsgeber (ähnlich wie ein Herzschrittmacher) im Gehirn implantiert wird, oder durch transkranielle Magnetstimulation (TMS), bei der ein externes Gerät mit Magnetspulen auf den Kopf gelegt wird.
Wie funktioniert das?
THS und TMS beeinflussen die Aktivität in einer ganz bestimmten Region des Gehirns, etwa so, als würde man eine spezifische Ampel an unserer Kreuzung ändern. Wie beim Straßenverkehr ist auch im Gehirn alles miteinander verbunden. Wenn man die Aktivität in einer Hirnregion verändert, wirkt sich dies auf das gesamte Netzwerk aus – wie auch eine einzige defekte Ampel den Verkehr einer ganzen Stadt stören kann.
Zusammenfassung
Zwangsstörungen lassen sich besser behandeln, als viele Menschen denken, und die meisten Betroffenen profitieren von einer Behandlung. Allerdings ist zurzeit keine dieser Behandlungsmethoden perfekt oder zu 100% erfolgreich. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich, und für viele ist es ein langer, herausfordernder Weg. Es ist wahrscheinlich, dass das Gleichgewicht im Gehirn nicht komplett wiederhergestellt werden kann; bei manchen Menschen verschwinden die Symptome nicht vollständig oder kehren vielleicht irgendwann zurück. Weil das menschliche Gehirn so komplex ist, können diese Behandlungen auch andere Hirnfunktionen beeinflussen und zu Nebenwirkungen führen. WissenschaftlerInnen arbeiten jedoch intensiv an der Verbesserung der Behandlungsansätze, um die Zwangssymptome sowie etwaige Nebenwirkungen weitgehend zu reduzieren.
Eine zentrale Frage der Forschung ist, welche Behandlungsmethoden für wen am besten geeignet sind. Möglicherweise profitieren Menschen je nach Art des Ungleichgewichts ihrer fronto-striatalen Netzwerke von unterschiedlichen Methoden oder Kombinationen. Deshalb untersuchen WissenschaftlerInnen, welche Ungleichgewichte es gibt, wie sich diese messen lassen und ob wir erkennen können, wer von welcher Behandlung profitieren würde.
