Möglichkeiten der Behandlung
In den vorhergehenden Abschnitten haben wir erklärt, wie die Zwangsstörung mit Gehirnfunktionen zusammenhängt, vor allem mit Ungleichgewichten in fronto-striatalen Netzwerken. Aber wie gehen die existierenden Behandlungsansätze bei Zwangsstörungen diese Ungleichgewichte an?
Verschiedene Prozesse im Gehirn können bei Menschen mit einer Zwangsstörung im Ungleichgewicht sein. So können verschiedene Behandlungsmethoden in unterschiedlicher Weise auf die fronto-striatalen Netzwerke einwirken. Dies könnte erklären, warum bestimmte Methoden bei manchen Menschen gut funktionieren und bei anderen weniger. In diesem Abschnitt beschreiben wir, was die gängigsten Behandlungen von Zwangsstörungen sind und was wir über ihre Wirkungsweise wissen. Es gibt auch andere Behandlungen, die das Gehirn beeinflussen. Allerdings sind viele noch nicht so etabliert bzw. werden momentan noch wissenschaftlich überprüft. Wir werden deshalb auf diese Behandlungen nicht eingehen, aber hier kannst du mehr darüber erfahren. Bitte beachte, dass die Verfügbarkeit und Zulassung solcher Behandlungen je nach Land unterschiedlich ist und sich ändern kann.
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Expositions- und Reaktionsmanagement (ERM)
Zwangsstörungen, vor allem bei jungen Menschen, werden am häufigsten mit evidenzbasierten Therapien behandelt, darunter kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Expositions- und Reaktionsmanagement (ERM). KVT ist eine spezifische Form von Psychotherapie, bei der Menschen unter der Anleitung qualifizierter PsychotherapeutInnen lernen, ihre Denkmuster und ihr Verhalten zu ändern. ERM ist die wichtigste Art von KVT bei Zwangsstörungen, da sie darauf abzielt, den Kreislauf der Zwangsgedanken und -handlungen zu durchbrechen.
Die betroffene Person konfrontiert sich dabei mit zwangsauslösenden Situationen, versucht aber, diese Handlungen nicht auszuführen. Wenn der Zwang sich beispielsweise um die Angst vor schlimmen Ereignissen dreht, dann könnte sich die Person ihren Triggern aussetzen, indem sie scharfe Gegenstände anfasst oder Bilder von einem Unfall ansieht. Unter der Anleitung eines/r Therapeutin stellt sie sich der Situation, akzeptiert das Gefühl von Unbehagen oder Angst, das dabei entsteht, und widersetzt sich dem starken Bedürfnis, die Zwangshandlungen auszuführen. Auf diese Weise macht ihr Gehirn wiederholt die Erfahrung, dass es angstauslösende Situationen aushalten kann, ohne darauf mit Zwangshandlungen reagieren zu müssen. KVT mit ERM verändert also die Funktionsweise des Gehirns durch das Besprechen, Lernen und Üben alternativer Verhaltensmuster. Eine solche Therapie ist oft herausfordernd, aber sehr wirkungsvoll. Weitere Informationen findest du in unserem Abschnitt OCD Ressourcen.

Wie funktioniert das?
Mit dem Expositions- und Reaktionsmanagement nutzen wir die Plastizität des Gehirns, d. h. seine Fähigkeit, sich anzupassen und zu verändern, um indirekt die Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Netzwerken zu verändern. Indem wir üben, anders auf zwanghafte Gedanken zu reagieren, beginnen wir, die zwangsauslösenden Situationen zu bewältigen. Bildgebende Verfahren des Gehirns deuten tatsächlich darauf hin, dass ERM die Funktionsweise der fronto-striatalen Netzwerke verändert (wissenschaftliche Artikel zu dem Thema findest du hier und hier).
Veränderung der Hirnchemie
Ein zweiter Ansatz zur Korrektur dieses Ungleichgewichts besteht darin, den Spiegel sogenannter Neurotransmitter im Gehirn zu ändern, die das Gleichgewicht der fronto-striatalen Netzwerke beeinflussen. Es gibt verschiedene Medikamente, die auf verschiedene Neurotransmitter einwirken. Die am häufigsten zugelassenen und verschriebenen Medikamente (sogenannte SSRI oder SRI) beeinflussen den Neurotransmitter Serotonin. Manchmal werden auch weitere Medikamente eingesetzt, die den Neurotransmitter Dopamin regeln.

Wie funktioniert das?
Wir wissen, dass diese Medikamente sicher sind und bei Zwangsstörungen helfen, aber wie sie die fronto-striatalen Netzwerke wieder ins Gleichgewicht bringen, ist nicht vollständig klar. Neurotransmitter haben viele Aufgaben im Gehirn, weshalb sich schwer feststellen lässt, was genau Medikamente verändern. Fest steht, dass sie direkt auf die Informationsverarbeitung in den Hirnregionen einwirken, die zu den fronto-striatalen Netzwerken gehören. Nehmen wir wieder unser Beispiel von der Straßenkreuzung: Der veränderte Spiegel eines Neurotransmitters wie Serotonin kann das gesamte System beeinflussen, genau wie die veränderte Dauer des grünen Lichts einer Ampel den Verkehrsfluss verändern kann.
Veränderung der Hirnaktivität
Es gibt andere, experimentelle Ansätze, um die Ungleichgewichte der fronto-striatalen Netzwerke zu verändern. Sie sind allerdings noch nicht umfassend untersucht bzw. sind nur für Betroffene zugelassen, die nicht auf die gängigen Behandlungen ansprechen. Diese Methoden ändern die Hirnaktivität direkt, z. B. durch Tiefe Hirnstimulation (THS), bei der ein elektrischer Impulsgeber (ähnlich wie ein Herzschrittmacher) im Gehirn implantiert wird, oder durch transkranielle Magnetstimulation (TMS), bei der ein externes Gerät mit Magnetspulen auf den Kopf gelegt wird.
Wie funktioniert das?
THS und TMS beeinflussen die Aktivität in einer ganz bestimmten Region des Gehirns, etwa so, als würde man eine spezifische Ampel an unserer Kreuzung ändern. Wie beim Straßenverkehr ist auch im Gehirn alles miteinander verbunden. Wenn man die Aktivität in einer Hirnregion verändert, wirkt sich dies auf das gesamte Netzwerk aus – wie auch eine einzige defekte Ampel den Verkehr einer ganzen Stadt stören kann.
Zusammenfassung
Zwangsstörungen lassen sich besser behandeln, als viele Menschen denken, und die meisten Betroffenen profitieren von einer Behandlung. Allerdings ist zurzeit keine dieser Behandlungsmethoden perfekt oder zu 100% erfolgreich. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich, und für viele ist es ein langer, herausfordernder Weg. Es ist wahrscheinlich, dass das Gleichgewicht im Gehirn nicht komplett wiederhergestellt werden kann; bei manchen Menschen verschwinden die Symptome nicht vollständig oder kehren vielleicht irgendwann zurück. Weil das menschliche Gehirn so komplex ist, können diese Behandlungen auch andere Hirnfunktionen beeinflussen und zu Nebenwirkungen führen. WissenschaftlerInnen arbeiten jedoch intensiv an der Verbesserung der Behandlungsansätze, um die Zwangssymptome sowie etwaige Nebenwirkungen weitgehend zu reduzieren.
Eine zentrale Frage der Forschung ist, welche Behandlungsmethoden für wen am besten geeignet sind. Möglicherweise profitieren Menschen je nach Art des Ungleichgewichts ihrer fronto-striatalen Netzwerke von unterschiedlichen Methoden oder Kombinationen. Deshalb untersuchen WissenschaftlerInnen, welche Ungleichgewichte es gibt, wie sich diese messen lassen und ob wir erkennen können, wer von welcher Behandlung profitieren würde.
