Das Gehirn

Um die Zwangsstörung und das Gehirn besser zu verstehen, brauchen wir zuerst ein paar grundsätzliche Informationen darüber, wie das Gehirn funktioniert.

Das Gehirn verarbeitet Informationen und steuert Verhalten

Unser Gehirn ermöglicht es uns, die Welt zu begreifen und uns in ihr zu bewegen. Eine seiner Hauptaufgaben ist die Informationsverarbeitung (ein bisschen wie ein Computer). Mit unseren Sinnen (Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken) nehmen wir Informationen aus der Welt um uns herum auf. Das Gehirn verarbeitet diese Informationen und steuert unser Verhalten.

A brain with the frontal, parietal, temporal and occipital lobes labelled according to different colours.

Was passiert zum Beispiel, wenn man eine Spinne sieht? Die visuellen Informationen (das Bild einer Spinne) gelangen von den Augen zu der dafür verantwortlichen Region des Gehirns – der Sehrinde, die auch visueller Cortex genannt wird. Daraufhin sendet das Gehirn Signale an andere Regionen, die diese Informationen auswerten und erkennen, dass es sich um ein Tier und spezifisch um eine Spinne handelt. Jetzt hast du also die Informationen – und musst dich entscheiden, was du tust. Läufst du weg? Oder siehst du dir die Spinne genauer an? Vielleicht hast du Angst vor Spinnen und entscheidest dich, wegzulaufen. Genau das ist im Grunde die Funktion des Gehirns: Es nimmt Informationen auf und wertet sie aus, so dass wir darauf reagieren können.

Das Gehirn ist das komplexeste Organ im menschlichen Körper. Es besteht aus Milliarden von Gehirnzellen, die sich zu verschiedenen Arealen zusammenschließen. Diese Areale tauschen Informationen miteinander aus und bilden so Netzwerke innerhalb des Gehirns.

Many brain cells forming networks, with some of them exchanging information with each other.

Laut aktuellen Erkenntnissen spielen sogenannte fronto-striatale Netzwerke bei Zwängen eine besonders wichtige Rolle. Jeder Mensch verfügt über mehrere fronto-striatale Bahnen. Sie verbinden Hirnregionen im sogenannten präfrontalen Cortex mit tieferen Regionen (wie dem Striatum), damit Informationen hin- und hergeschickt werden können – daher also ein „Netzwerk“. Die fronto-striatalen Netzwerke tragen maßgeblich zur Gewichtung von Informationen und der Auswahl zwischen konkurrierenden Informationen bei – kurz, sie entscheiden, was wichtig ist und was nicht.

A brain with frontal areas and the striatum highlighted in different colours, with arrows between them depicting frontostriatal loops.

Man kann sich die fronto-striatalen Netzwerke wie Straßenkreuzungen vorstellen, die dabei helfen, den Fluss zwischen Autos, Fahrrädern und Fußgängern zu regeln. Ampeln helfen auch dabei, den Verkehrsfluss zu regeln. Im Gehirn steuern die fronto-striatalen Netzwerke den Informationsfluss – gewisse Informationen werden durchgelassen, andere aufgehalten. Sie können sogar bestimmen, welche Arten von Informationen wichtiger sind und deshalb schneller ihr Ziel erreichen sollten.

An effectively managed traffic junction viewed from above.

Die fronto-striatalen Netzwerke steuern den Informationsfluss und dadurch unsere Reaktionen auf bestimmte Situationen: ob wir etwas vermeiden oder genauer ansehen, auf welche Informationen wir uns konzentrieren oder ob wir über Dinge weiter nachdenken oder uns neuen Dingen zuwenden. Diese Netzwerke haben großen Einfluss auf unser Verhalten. Wenn wir also eine Spinne sehen, helfen uns die fronto-striatalen Netzwerke zu entscheiden, ob wir näher hinsehen oder weglaufen.

Biochemische Stoffe namens Neurotransmitter beeinflussen maßgeblich, wie die fronto-striatalen Netzwerke funktionieren. Neurotransmitter sind Botenstoffe, welche es Gehirnzellen erlauben, miteinander zu kommunizieren. Unterschiedliche Mengen von Neurotransmittern wie Dopamin oder Serotonin können sich darauf auswirken, wie wir Entscheidungen treffen.

Die fronto-striatalen Netzwerke spielen auch eine wichtige Rolle bei Zwängen. Wir werden später noch genauer auf diese Netzwerke und Zwänge eingehen.

Unterschiedliche Einflüsse machen jedes Gehirn einzigartig

Alle Gehirne funktionieren nach diesen allgemeinen Grundsätzen der Informationsverarbeitung. Trotzdem ist das Gehirn jedes Menschen einzigartig und verarbeitet Dinge auf individuelle Weise.

Kein Gehirn ist genau wie das andere, und jedes Gehirn verändert sich im Laufe des Lebens. Bei unserer Geburt hat das Gehirn nur einen Bruchteil seiner vollen Größe. Während der Kindheit, und Jugend, bis ins Erwachsenenalter wird es immer größer und komplexer. Die Hirnregionen, die zu den fronto-striatalen Netzwerken gehören, bilden sich mit als letzte voll aus, meistens erst im späteren Jugendalter. Dies könnte wesentlich zur Entstehung von Störungen wie der Zwangsstörung beitragen. Mehr zu diesem Thema erfährst du im nächsten Abschnitt.

A large brain surrounded by piano and balls for different sports, a DNA strand, nature and city, as well as the silhouette of a grown-up woman and a baby.

Diverse Faktoren beeinflussen, wie sich unser Gehirn entwickelt und verändert. Ein solcher Faktor sind unsere Gene – die biologischen Bausteine, die wir von unseren Eltern erben. Gene bestimmen zum Teil, wie unser Gehirn aufgebaut ist. Sie sind aber nicht der einzige Faktor. Wir wissen, dass die Umwelt ebenfalls einen großen Einfluss hat – alles, was wir im Laufe unseres Lebens sehen, erleben und tun, wirkt sich auf unser Gehirn aus. Wenn wir z. B. Klavierspielen lernen, verändern sich Struktur und Funktion des Gehirns, um die Koordination der komplexen Fingerbewegungen zu unterstützen. Das Gehirn ist also kein statisches Organ, sondern ein ausgesprochen dynamisches. Es passt sich den Anforderungen und den Umständen an. Diese Eigenschaft nennt man Plastizität oder Formbarkeit – die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern. Alle Einflüsse, sowohl intern (wie unsere Gene oder Veränderungen bei Hormonen und Neurotransmittern) als auch extern (wie das Erlernen neuer Fähigkeiten), wirken sich wesentlich auf das Gehirn und seine Funktion aus.

All dies bedeutet, dass jedes Gehirn einzigartig ist. WissenschaftlerInnen untersuchen gegenwärtig, wie Unterschiede in der Art und Weise, wie das Gehirn funktioniert, zu Zwangsstörungen führen können. Genauso, wie alle Gehirne unterschiedlich sind, können sich auch die Ursachen von Zwängen von Person zu Person unterscheiden. Darauf gehen wir im nächsten Abschnitt ein.