Welche Rolle spielt das Gehirn bei der Zwangsstörung?

Die Wissenschaft versucht noch zu entschlüsseln, welche Mechanismen im Gehirn mit der Zwangssymptomatik einhergehen. Wahrscheinlich ist, dass Zwänge nicht durch einen einzigen veränderten Prozess im Gehirn verursacht werden, sondern durch Veränderungen von mehreren verschiedenen Gehirnprozessen.

Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, wird die Entwicklung des Gehirns von diversen Faktoren beeinflusst, darunter Gene, Umwelt, Erfahrungen und Verhalten. All diese Faktoren tragen zu der einzigartigen Struktur und Funktionsweise des individuellen Gehirns bei.

Zwänge entstehen vermutlich, wenn sich mehrere Prozesse im Gehirn auf bestimmte Weise entwickeln. Obwohl die Ursachen je nach Person unterschiedlich sein können, können sehr ähnliche Symptome (d.h. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen) entstehen. Das lässt sich z. B. mit Kopfschmerzen vergleichen. Kopfschmerzen sind ein Symptom (dein Kopf tut weh), können aber von verschiedensten Dingen verursacht werden: einer Migräne, zu viel Sonne oder dem Konsum schädlicher Substanzen. Genauso gibt es vermutlich unterschiedliche Gründe, warum Menschen Zwangssymptome erleben. In diesem Abschnitt betrachten wir die Rolle der fronto-striatalen Netzwerke, denn sie stehen im Mittelpunkt einer der etabliertesten wissenschaftlichen Theorien zu den Ursachen von Zwangsstörungen.

A brain with frontal areas and the striatum highlighted in different colours, with arrows between them depicting frontostriatal loops.

WissenschaftlerInnen sind im Laufe der letzten Jahrzehnte zu dem Schluss gekommen, dass Veränderungen der fronto-striatalen Netzwerke maßgeblich für Zwänge verantwortlich sind. Diese Netzwerke spielen eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung und Gewichtung von Informationen.

Wenn die Steuerung dieses Informationsflusses gestört ist, beispielsweise durch Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Netzwerken, können – laut WissenschaftlerInnen – die Symptome von Zwangsstörungen erscheinen, wie beispielsweise zwanghafte Gedanken und Handlungen.

  • Ist z. B. die Kontrolle eines Signals für eine Bewegung gestört, kann dies dazu führen, dass die Person in Reaktion auf einen „Trigger“ oder Auslöser (Messer, Herd, Lichtschalter usw.) ein starkes Bedürfnis empfindet, bestimmte Verhaltensweisen auszuführen. Dies führt zu Zwangshandlungen (indem man z. B. scharfe Gegenstände meidet, wiederholt kontrolliert, dass der Herd abgeschaltet ist, oder einen Lichtschalter ein- und ausschaltet).

  • Ähnlich könnte ein Ungleichgewicht in den fronto-striatalen Netzwerken dazu führen, dass gewöhnliche aufdringliche Gedanken zu Zwangsgedanken werden. Viele Menschen, mit oder ohne Zwängen, erleben aufdringliche oder beunruhigende Gedanken. Bei einer Zwangsstörung bleiben diese aufdringlichen Gedanken jedoch oft im Kopf haften und lassen sich nur schwer unterdrücken. Hier dürften die fronto-striatalen Netzwerke eine Rolle spielen. Wenn ein Ungleichgewicht vorliegt, ist das Gehirn möglicherweise nicht in der Lage, solche Gedanken als irrelevant einzustufen und zu unterdrücken. Dadurch bleiben sie bestehen und werden zu Zwangsgedanken. Oft führt dies zu einem erhöhten Maß an Leidensdruck und setzt den Kreislauf der Ausführung von Zwangshandlungen fort, um die Gedanken und das Leid, die überwältigend geworden sind, zu reduzieren.

A traffic jam represented by an frustrated cyclist and stopped cars, with a bus in the background, which contains an advert with words and sentence that normally arise during OCD symptoms.

Kurz zusammengefasst: WissenschaftlerInnen gehen davon aus, dass Probleme bei der Verarbeitung unterschiedlicher Arten von Informationen oder bei der Steuerung des Informationsflusses im Gehirn zu zwanghaften Gedanken und Handlungen führen können.

Zurück zu unserem Beispiel einer Verkehrskreuzung: Wenn die Ampelschaltung nicht stimmt, wird der Verkehr nicht mehr optimal geregelt. Schaltet eine bestimmte Ampel beispielsweise nur selten auf Rot, erhält der Verkehr auf dieser Straße Vorrang, während anderswo Staus entstehen. Selbst kleinere Ungleichgewichte in einem so komplexen, dynamischen System können im weiteren Verlauf schwerwiegende Folgen haben.

A badly managed traffic junction viewed from above.

Trotz großer Fortschritte in diesem Bereich der Forschung wird noch aktiv untersucht, wie genau die fronto-striatalen Netzwerke ins Ungleichgewicht geraten. Ähnlich wie eine komplexe Verkehrskreuzung in der Großstadt kann sich das Gleichgewicht im Gehirn auf verschiedenste Weisen verändern:

  1. Ein Ungleichgewicht biochemischer Botenstoffe (sogenannte Neurotransmitter), die diese Netzwerke steuern, könnte eine Rolle spielen.

  2. Die Stärke der Verbindung zwischen Hirnregionen könnte sich ebenfalls auf den Informationsfluss auswirken.

  3. Oder vielleicht ergeben sich Veränderungen, wenn das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Netzwerken gestört ist.

A brain with frontal areas and the striatum highlighted in different colours. The arrows between them, which depict frontostriatal loops, are broken up.

Weil es derart unterschiedliche Ursachen für Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Netzwerken gibt, kann es sein, dass je nach Person auch unterschiedliche Behandlungsansätze erforderlich sind. Dieses Thema wird derzeit aktiv erforscht – mehr erfährst du im nächsten Abschnitt.

Das Auftreten der Symptome

Die Symptome einer Zwangsstörung machen sich oft im späten Kindheitsalter, in der Jugend oder in den frühen Zwanzigern erstmals bemerkbar. Weil das Gehirn in dieser Zeit eine erhebliche Entwicklung durchläuft, gehen ForscherInnen davon aus, dass sich viele Gehirnsysteme noch stark verändern können. Sowohl Neurotransmitter als auch Hirnregionen, die mit den fronto-striatalen Netzwerken verbunden sind, reifen noch bis weit in das Jugend- und frühe Erwachsenenalter. Wenn also die Entwicklung dieser Gehirnsysteme nicht rundläuft, dürfte dies erheblich zur Auslösung der Zwangsstörung beitragen. Somit kann die individuelle Entwicklung des Gehirns zur Entstehung einer Zwangsstörung führen. Dennoch kann die Zwangsstörung in jeder Lebensphase auftreten, beispielsweise in einer besonders belastenden.

ForscherInnen wissen noch nicht genau, warum zwanghafte Gedanken und auch Handlungen so viele verschiedene Themen umfassen. Diese reichen beispielsweise von Waschzwängen aufgrund gesundheitlicher Ängste, über Kontrollzwänge zur Bewältigung von Unsicherheit, bis hin zu Zwangsritualen, um Unheil abzuwenden. Es ist möglich, dass sich Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Bahnen insbesondere auf die Dinge beziehen, die für die jeweilige Person besonders viel Stress oder Angst verursachen oder die ihr besonders wichtig sind. Mit anderen Worten: Der Inhalt zwanghafter Gedanken und Handlungen ist oft individuell und abhängig von den Prioritäten und Sorgen der jeweiligen Person. Dies würde bedeuten, dass sich die Zwangsstörung zwar anders äußert, aber ähnliche biologische Ursachen haben könnte.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Zwangsstörung vermutlich durch Veränderungen in fronto-striatalen Netzwerken verursacht wird, welche Informationen im Gehirn unterdrücken und Vorrang geben. Ungleichgewichte bei der Steuerung dieser Informationen können zur Entstehung von Zwangsgedanken und -handlungen beitragen. WissenschaftlerInnen untersuchen zurzeit, wie man diese Ungleichgewichte in den fronto-striatalen Netzwerken ändern kann und welche Behandlungsmethoden das Gleichgewicht wiederherstellen können.

The text

Im nächsten Abschnitt befassen wir uns damit, wie die Wissenschaft diesen Fragen nachgeht und welche anderen vielversprechenden Forschungsansätze es gibt.